Eisernes Buch
der Gemeinde Lobberich (1929)

- Stimmung und Stimmungsbilder -

Buch S. 7ff

eisernes Kreuz

Erster Teil.

Der erste Teil des „Eisernen Buches“ schildert die Teilnahme der Gesamtheit der Gemeinde am Kriege, ihr Miterleben, Mitempfinden, Mitleiden, Mitdulden und Mitopfern, den waffenlosen Krieg in der Heimat, wie er die gesamte Bürgerschaft umklammerte und die Lebens- und Wirtschaftsinteressen beeinflusste, sowie das Kriegsende.

Stimmung und Stimmungsbilder

Am 31. Juli 1914 wurde für ganz Deutschland der Kriegszustand erklärt. Am Tage darauf, am 1. August 1914, folge der Mobilmachungsbefehl. Bei Ausbruch eines Krieges ist die Stimmung des Volkes von größer Bedeutung. Wie war es nun am Abend des 1. August, der gegen 6 Uhr den Mobilmachungsbefehl nach Lobberich brachte, um die Stimmung der Lobbericher Bürger bestellt? Erleichtert atmete mit allen Deutschen auch Lobberichs Bürgerschaft nach der unnatürlichen Spannung, die in den letzten Wochen die Gemüter beherrschte, auf. Bei der Durchfahrt von Militärautos kam es zu begeisterten Kundgebungen. Aber kein übermütiger Jubel lag in dieser großen Begeisterung. Die alten Leute, die den 1870er Krieg erlebt hatten, wussten zu genau, was Kriegsnot heißt und der Ernst der augenblicklichen Lage erfüllte Straßen und Haus. Doch konnte er die hohe Begeisterung nicht aufhalten, die sich in Hochrufen auf Kaiser und Reich und in vaterländischen Liedern auf Straßen und Plätzen, in Häusern und Wirtschaften kund tat. Die Nacht wurde zum Tage; keiner dachte an Ruhe. Jede Stunde schien den Angehörigen, Freunden und Nachbarn der Kriegspflichtigen kostbar, die für eine vielleicht recht lange Trennungszeit mit den letzten Beweisen der Liebe und Treue zu überhäufen, und die nötigen Dorfehrungen für die alsbaldige Einstellung zu treffen. Zwietracht und Hader verschwanden. Alle Lobbericher waren ganze Deutsche und als solche ein Gedanke und eine Seele, ein Herz und ein Wille.

„So lang ein Tropen Blut noch glüht,
noch eine Faust den Degen zieht,
und noch ein Arm die Büchse spannt,
Betritt kein Welscher des Rheines Strand.“

Das es sich um Leben oder Vernichtung handelte, wussten in dieser Stunde auf Lobberichs Bürger. Das Vaterland rief und alle waren bereit. Sie fragten sich: „Sollen Deutschland und Österreich in Trümmer gehen?“ Nein, Recht und Gerechtigkeit sollen weiterbestehen auf Erden. Bereits in der Frühe des 2 August, dem ersten Mobilmachungstag, mussten sich die Lobberichter Kriegspflichtigen beim Bezirkskommando in Rheydt stellen. Gab das ein großes Abschiedsnehmen und ein herbes Kriegsweh, als der Gatte und Vater sich mit Gewalt den Armen der Gattin und der Kinder entziehen musste, als der Sohn den besorgten Eltern den letzten Abschiedskuss auf die Lippen drückte, als die Braut vom Geliebten, der Freund vom Freunde scheiden musste! Stieg dann auch im Augenblicke die Träne ins Auge, so wurde die doch bald durch den tröstenden Gedanken zurückgedrängt, dass das schwere Opfer für die höchsten Güter gefordert wurde, für Heimat und Vaterland. Daher fort mit Kleinmut und Zagen! Und so zogen Lobberichs Söhne denn mutig aus zur Fahne; es galt kein Umsehen von Person und Stand. Als Waffenbrüder wollten die nebeneinander kämpfenden, die Brust dem Feinde bieten und mit vollem Vertrauen dem Waffenglück betreten um Kraft, Leben und Sieg.
In Unbetracht, dass das Vaterland das edelste Volksgut ist, waren auch die Lobbericher Mütter und Frauen bereit, jedes Opfer zu bringen. Sie zeigten sich in schwerer Stunde als deutsche Heldenfrauen. Darum war ihr Schmerz nicht fassungslos, kein gebrochenes Wehklagen, kein knirschendes Tragen des Unvermeidlichen, sondern selbstlose Hingabe in Gottes Willen. Die Kirche war beim Gottesdienste angefüllt mit Betern, und gegen Abend umlagerten Scharen von Andächtigen Lobberichs althergebrachte ehrwürdige Gebetsstätten: das Missionskreuz an der alten Pfarrkirche, die Eremitage und das Hagelkreuz. Es wurden Opferkerzen angezündet und bei ihrem Scheine stiegen inbrünstige Gebete zum Himmel. So war es Tag für Tag, Abend für Abend. Gar mancher, dessen Lippen lange für das Gebet verschlossen gewesen waren, legte jetzt Zeugnis ab für die Wahrheit des Sprichwortes: „Not lehrt beten.“
Die tollsten Gerüche durchschwirrten in der ersten Kriegswoche unserer Gemeinde. Jedermann wusste eine neue, bald eine freudig stimmende, bald eine aufregende Mitteilung. Man sprach viel von Spionen und russischen Goldautos. Die Letzteren sollen dazu dienen, große Goldmengen von Frankreich nach Russland zu transportieren. Tatsächlich liefen bei der Gemeindeverwaltung in den ersten Kriegswochen bei Tag und bei Nacht Telegramme der vorgesetzten Dienststelle ein, wonach auf das ein oder das andere Auto aufmerksam gemacht wurde. Als man nachher nicht mehr an die Goldautos glauben wollte, waren es Radfahrer, die auf ihren Rädern Gold von Frankreich nach Russland schafften. Wie später bekannt wurde, war die Geschichte dieser Goldautos nur eine kluge Maßnahme der obersten Heeresleitung. Denn die hat mit dieser erreicht, was sie wollte: Die Verwaltungsbehörden und die Bürgerschaft nahmen die vielen durchfahrenden Automobile, die vielleicht von Spionen pp. Besetzt sein konnten, unter scharfer Kontrolle. Die Kontrolle ging soweit, dass auf Autos, die auf Anruf nicht hielten, scharf geschossen wurde. Die Zeitungen berichteten, das in verschiedenen Gegenden der Rheinprovinz bei dieser Gelegenheit Zivilpersonen erschossen worden sind.
Auch die Nachricht von einem Durchbruch der Franzosen durch Holland wurde hier verbreitet. So hieß es eines Tages, die Franzosen ständen bereits vor Brüggen. Die Feuerwehr wurde alarmiert und bewaffnet. Ein jeder hatte seinen Posten, um die Dorfeingänge zu verteidigen. Auf dem Marktplatze wurde das Pflaster aufgerissen und eine starke Barrikade errichtet. Das Gerücht klärte sich aber bald nachher auf. Die Franzosen standen nicht vor Brüggen im Kreise Kempen, sondern vor Brügge in Belgien. Große Aufregung bemächtigte sich auch der Bevölkerung, als englische Flieger Lobberich überflogen, um die Zeppelinhalle in Düsseldorf mit Bomben zu bewerfen. Langsam wurden die Bürger aber ruhiger, nahmen beunruhigende Gerüchte mit Misstrauen auf und befestigten sich im Vertrauen zu ihrer Armee und deren Führung.
Am zweiten Mobilmachungstage wurden die Pferde in Lobberich zum Kriegsdienst ausgehoben. Einerlei, ob jung oder alt, sämtliche Pferde mussten der Kommission vorgeführt werden, um für einen Kriegsverwendungszweck bestimmt zu werden. Wenn auch die Entschädigung eine gute war, so führte doch mancher Besitzer schweren Herzens den liebgewordenen Gaul zur Geldschmiede, wo ihm mit glühendem Stempel die Marke des VIII. Armeekorps eingebrannt wurde.
Das Auftauchen falscher Gerüchte beschränkte sich nicht mehr auf die erste Kriegswoche. So hatte z.B. im Oktober 1916 in Holland die schon vor längerer Zeit geplante Bombenmobilmachung begonnen. Daran knüpften natürlich viele Miesmacher wieder allerhand Befürchtungen, und es wurden naturgemäß wieder Gerüchte laut, die besonders nervös veranlagten Personen Angst und Schrecken einjagten. Eine Veranlassung zu der Befürchtung, unsere Grenze wäre von irgend einer Seite gefährdet gewesen, lag durchaus nicht vor. Ferner wurde auch hier wie an anderen Orten das Gerücht verbreitet, es wäre an der Front im Westen die Pest ausgebrochen. Daran wurden dann die schauerlichsten Erzählungen angeknüpft.
Mitte April 1918 schrieb das Korrespondenzbureau aus dem Haag: „Hier waren die letzten Tage beunruhigende Gerüchte über ein angebliches Ultimatum Deutschlands an die holländische Regierung im Umlauf, wonach Deutschland versucht haben soll, unsere Häfen zu besetzen, wenn wir nicht gewissen deutschen Forderungen nachkommen würden. An maßgebender Stelle weiß man nichts von einem derartigen Ultimatum.“ Derartige Gerüchte waren auch in unserer Gegend in Umlauf gesetzt worden, anscheinend von feindlicher Seite, einerseits, um unsere Stimmung herabzudrücken, anderseits, um den Mut unserer Feinde zu heben. Vor der Weiterverbreitung solcher falschen Gerüchte wurde damals dringend gewarnt.
Aber nicht lange währte es, da tauchte im hiesigen Bezirk erneut wieder eine Unmenge törichter Gerüchte ähnlicher Art auf, wie sie nach einer durch die Presse gegangenen Mitteilungen des Kriegsministeriums offenbar im ganzen Reiche verbreitet waren. Es handelte sich meist um vollständig aus der Luft gegriffene Behauptungen, die schon früher als töricht und sinnlos widerlegt worden waren. So sollte wieder einmal Hindenburg Selbstmord verübt haben; es sollten größere Truppenverbände an der Front zum Feinde übergegangen sein, deutsche Soldaten sollten regimenterweise den Gehorsam verweigert haben; es sollte ein Flottenvorstoß gegen Helgoland stattgefunden haben, U- Boot- Ausfahr- Straßen sollten verraten und daran beteiligte Marine- Offiziere erschossen worden sein usw. Alle diese von feindlichen Agenten und der nicht rastenden Northcliffe- Propaganda in die Welt gesetzten Gerüchte trugen den Stempel der Erfindung so deutlich an der Stirn, das man es nicht hätte glauben sollen, das Personen ihre Zeit damit verschwendeten, solche Gerüchte sich vorerzählen zu lassen und sogar weiterzuverbreiten. In derselben Weise wurden Einzelvorgänge, die hier und da vorgekommen waren, gewaltig aufgebauscht und verallgemeinert. Wenn irgendwo beim Truppentransport unvorhergesehene Störungen vorgekommen waren, machte der dritte und vierte Erzähler schon ganze Regimenter daraus, die auf dem Transport gemeutert hätten. Solche und ähnliche Gerüchte waren in der Lage, manche Leute aus der Fassung zu bringen und es bedurfte immer einer geraumen Zeit, bis die aufgeregten Gemüter sich wieder beruhigt hatten.

Der Verlag der „Rhein und Maas“ schloss mit dem Wollf´schen Depeschenbüro Berlin einen Vertrag über die Lieferung der Tagesberichte der obersten Heeresleitung, Sonderberichte und Depeschenbriefe ab. Der Vertrag war hierdurch in der Lage, die amtlichen Berichte des deutschen Hauptquartiers früher als die Tageszeitungen zur Kenntnis der Lobbericher Bürgerschaft und der nächsten Umgebung zu bringen. War eine Depesche oder ein telegraphischer Tagesbericht an der am Geschäftshause der „Rhein und Maas“ angebrachten Depeschentafel zum Aushang gebracht, so umringten manchmal hunderte von Leuten die Tafel, um die Neuigkeit zu erfahren. Den ganzen Tag standen Bürger, die ungeduldig auf den Eingang von Telegrammen warteten, vor dem Verlagsgebäude. Lauter Jubel durchbrauste jedesmal die Luft, wenn die Nachricht von einer siegreichen Schlacht unserer Feldgrauen bekannt wurde. Gleich fand sich auch jemand, der an Hand einer Karte das Vorrücken unserer Truppen erklärte. Der Andrang am Depeschenaushang war zeitweilig so stark, dass die „Rhein und Maas“ sich genötigt sah, das ihr von der Firme Lobbericher Tapetenhaus zur Verfügung gestellte Schaufenster mitzubenutzen.
Tage besonderer vaterländischer Begeisterung bereiteten jedesmal die vielen einlaufenden Siegesnachrichten. Kaum hatte der Draht die freudige Nachricht gebracht, flogen die Extrablätter von „Rhein und Maas“ hinaus in Lobberich und Umgebung und überall wurden sie mit einem lauten „Hurra“ aufgenommen. „Fahnen heraus“! hieß es und schnell und willig folgte die gesamte Bürgerschaft diesem Rufe. Bald prangten Lobberichs Straßen im schönen Fahnenschmuck. Es setzte feierliches Geläute aller Kirchenglocken ein, es ertönten Böllerschlüsse. Der langjährige Ausrufer der Gemeinde, Herr Johann Friedrichs, zog mit Trommelklang durch die Straßen, um überall die Siegesbotschaft zu verbreiten. Geschah dies zur schulfreien Zeit, so gab ich eine zahlreiche Vaterlandslieder singende Schuljugend das Geleite. Abends zogen Gruppen von Schulkindern mit Fackeln durch die Straßen und die Lobbericher Gesangvereine ließen auf dem Marktplatz in ihrer freudevollen, vaterländischer Stimmung herrliche Lieder erschallen. Für die Schulen war seitens der Regierung die Weisung ergangen, das deutsche Waffenglück durch eine würdige Schulfeier mit anschließendem Ausfall des Unterrichts der Jugend unvergesslich zu machen. Und wenn die Siegesglocken ihren ehernen Mund geschlossen hatte, so erscholl Trauergeläute über die Gemeinde hinaus, ihr verkündend, dass Lobberichs Söhne auf dem Felde der Ehre ihr Herzblut für das Vaterland geopfert haben.
Das Heldenblut der gefallenen Krieger entfachte die Vaterlandsliebe der deutschen Jugend zu hoher Glut.

„Lass mich gehen, Mutter, lass mich gehen!
All das Weinen kann uns nichts mehr nützen,
Denn wir gehn, das Vaterland zu schützen,
Lass mich gehen, Mutter, lass mich gehen!
Deinen letzten Gruß will ich vom Mund dir küssen:
Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!

Wir sind frei, Vater, wir sind frei!
Tief im Herzen brennt das heiße Leben;
Frei wären wir nicht, könnten wir´s nicht geben.
Wir sind frei, Vater, wir sind frei!
Selber riefst du einst in Kugelgüssen:
Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen.“

Von tiefem Geiste des deutschen Arbeiterdichters Lersch getrieben, strömten schon gleich zu Beginn des Krieges große Scharen junger Leute als Kriegsfreiwillige zur Fahne. Bereits am 15. August 1914 machte das Essener Bezirkskommando bekannt, das vor dem 1. September keine Freiwilligen mehr angenommen werden können.
Um den Lügemeldungen der Entente in der holländischen Presse entgegenzutreten, veranlasste die „Rhein und Maas“, besonders in der ersten Kriegszeit, das die deutschen Heeresberichte auch nach Venlo (Holland) in mehreren Stücken gelangten und dort zum Aushang gebracht wurden. Später übernahm die militärische Leitung der Grenzschutzwache die Weiterverbreitung der deutschen Heeresberichte auf holländischem Boden.


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