Die Wette

Eine Geschichte aus Lobberich

von Heribert Teggers

Die Geschichte spielt zu jener Zeit, da Eduard VII. von England gestorben war und die Firma Link Niediek den schwarzen Samt für die Trauerfeierlichkeiten nach London lieferte. Die Ballen wurden auf Planwagen bis Venlo gebracht und dort auf das Schiff verladen. Das habe ich als Junge miterlebt, und mein Vater hat mir erzählt, daß diese riesige Lieferung, die den Gesprächsstoff in den Straßen abgab, den Wert von einer Million deutscher Reichsmark darstellte.
Sie hat auch den Matthes op de Kamp, von dem diese Geschichte berichten soll, stark bewegt . Ich sehe ihn noch bei meinem Vater stehen, höre ihn über diese Lief erung sprechen und die Worte sagen, die er durch Handschläge auf den prallen Oberschenkel des rechten Beines bekräftigte: Dat es noch en Geschäft, wat! Wat send wör doch ärm Lü!"
Matthes op de Kamp, seines Zeichens Ferkelstecher und Wurstmacher, war aus der Lobbericher Gemarkung nicht fortzudenken. Er gehörte zu ihr wie die struppigen Kopfweiden an den Wiesenbächen und die kanadischen Pappeln, die hier und dort in einer majestätischen Kulisse die Weiden säumten, wie die Frühlingsspiele der Kiebitze, wie die Sommerglut über den prallgelben Weizenschlägen, wie die herbstlichen Nebelgespenster an den Rändern der geheimnisvollen Kolke, wie die winterliche Feldeinsamkeit der schier grenzenlosen Weite.
Kaum ging ein Tag zu Ende, an dem er nicht irgendwo zwischen den verstreuten und entlegenen Gehöften auf tauchte, nicht nur zur Schlacht- und Wurstzeit - er war wirklich immer da. Denn überall galt es, klug und profitlich zu helfen. Und klug und profitlch veranlagt war Matthes op de Kamp. Die Bauern mochten ihn gern, weil er sich auf die Behandlung kranker Tiere verstand, weil er immer wußte, wo es einen guten Pferdekauf oder -tausch gab, wo gute Milchkühe entbehrlich standen und wem durch Vermittlung von Gesinde geholfen werden mußte.
Ohne Matthes op de Kamp hätte in der Lobbericher Gemarkung etwas gefehlt. Sein Gesicht, das einem sauberen Schweinskopf viel Ähnlichkeit abzugewinnen wußte, gab sich stets puterrot. Der Nacken war feist und kurzgedrungen wie bei einem wertvollen Zuchtstier. Den vierschrötigen Körper trugen zwei kräf tige Beinsäulen, deren untere Enden in zerfransten Ledergamaschen steckten. Eine Portion Stroh wärmte winters die Füße in den holländischen Klumpen mit bunten Herzchen in ihrem „Himmel" . Um die Lenden hing, wie weiland dem Gott Amor, der Köcher, allerdings nicht mit Liebespfeilen, sondern mit Wetzstahl und Schlächtermesser gespickt. Die rechte Hand schwang den niederrheinischen Metzgerstock, durchsetzt mit wuchtigen Knoten, und die linke hielt eine alte Jagdpfeife, die selten kalt wurde.
Matthes blieb stets wohlgelaunt, weil er die Kunst zu leben verstand. Den Bauern und ihren Weibern erzählte er Witze, meist alte, aufgewärmte, in denen er selbst die Hauptrolle spielte. Und in seiner fettigen Hosentasche waren oft genug klebrige Bonbons für die Kinder, die ihm überall jubelnd entgegenliefen, wo immer nur seine Stiergestalt in der Gemarkung auf tauchte.
Am lebendigsten an ihm aber waren die kregelen, verschmitzten Äugelchen, warm und wohlig in Fettpolstern eingebettet, denen weit und breit nichts entging, die wie die Lichter des Fuchses Jedwedes anblitzten, das sich irgendwo in der Weite anließ.

Heute nun war Matthes op de Kamp im Maarfeld beim Bauer Karmans gewesen. Das Schlachtfest hatte ihm das kurze Bäuchlein noch praller gefüllt und deshalb war er besonders guter Dinge. Er pfiff ein fröhliches Liedchen und stampfte auf den Säulenbeinen wohlgemut heimwärts. Ja, das Leben geriet doch täglich immer wieder neu, und Matthes bedauerte die Toten, die nichts mehr von der göttlichen Güte eines opulenten Wurstfestes wußten.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.Was war denn nur mit dem Lobbericher Kirchturm los, den seine Äugelchen in der Feme haschten! Das Ding stand ja schief! Oder sollte er . . .? Die paar Schnäpse beim Bauern, und es waren nicht einmal besonders scharfe gewesen - nein, nein, die konnten ihm doch nichts anhaben! Merkwürdig trotzdem! Er legte die rechte Hand über die Augen, um die Grelle des Lichtes zu dämpfen, fixierte mit seinem Metzgerstock, stellte sich ein wenig nach rechts, dann nach links, drehte sich ein paarmal um die eigene Achse, peilte den Turm erneut an, fixierte abermals.... nichts zu wollen. Das Ding stand schief, wahrhaftig schief! Wenn der Kirchturm kippte, dann fiel er auf Dülken zu. Pottverdomie! Da lief er nun schon jahrelang durch die Lobbericher Gemarkung, glaubte alles stets genau beobachtet zu haben und mußte soeben feststellen ...
Man merkte es fast nicht, aber dennoch sollte es ein nichtverstehendes Kopfschütteln sein - Hals und Kopf waren eben eins. Matthes blieb derart in die plötzlich aufgetauchte Erscheinung vertieft, daß er dem Hein Heußen, dem alten Landbriefträger - mochte der auf seinem Fahrrad noch so klingeln - einfach den Weg nicht freigab. Hein mußte mühsam absteigen, wollte er den Träumer nicht umfahren.
„Hein, dä Kerktur!" stotterte Matthes, als ihm der Landbrief träger das Vorderrad in die linke Kniekehle stieß.
„Wat es met dem?"
„Dä steht einfach schef, dat es alles!" erwiderte Hein in stoischer Ruhe und steckte seine ausgegangene Pfeife wieder in Brand.
„Wenn dä kippt, dann fällt dä op Dölken an!" erregte sich Matthes und wies mit dem Stock in die Richtung.
„Nä, net op Dölken, ob Breyell an!" entgegnete Hein und entflammte ein zweites Streichholz.
„Quatsch!" brummte der Ferkelstecher grob, „dat dä op Dölken an fällt, dat süht doch jedes Kenk!"
„Nä!" beharrte der Brief träger, „op Breyell an!"
Da wurde es dem Matthes doch zu bunt. „Wetten!" schrie er mit öliger Stimme und hielt dem Gegenspieler die Hand hin. „Wetten!" sagte der ganz ruhig und schlug ein.
„Öm twie Fläsche Sekt? trumpf te der Wurstmacher auf.
„Öm twie Fläsche Sekt!" erklärte sich Hein einverstanden.

Nach einer knappen Stunde saßen die beiden Ehrenmänner in Matthes op de Kamps Stammkneipe beim Sekt, im Hinterstübchen natürlich, denn sie wollten ihre Wette keinem schadenfrohen Publikum bekanntgeben. Nur der Wirt Aloys Paßmann wußte davon und zeigte Verständnis dafür, nannte sie eine ehrliche Wette, ohne sich allerdings aus Klugheitsgründen zu einer Partei zu bekennen. Er liebte keine Komplikationen, und Neutralität war - er hatte es unzählige Male ausprobiert - ein nicht zu unterschätzender Verdienstfaktor. Nach einer guten halben Stunde waren die beiden Flaschen Sekt bis auf ein Gläschen geleert. Aloys Paßmann trank natürlich mit, denn die Wettenden hatten ihn dazu eingeladen. Und als nun der letzte Schluck getan war, standen die Beiden auf, um sich zu verabschieden. Keiner von ihnen machte Anstalten, die Geldbörse zu ziehen.
Da tat denn notgedrungen der Wirt die Frage nach der Bezahlung. „Dat körnt drop an, wie dän Ture fällt!" meinte Matthes op de Kamp. „Joa, akkurat, so es et, Aloys", unterstrich Hein das Wort seines Freundes. Damit flogen zwei Finger an den Schirm der amtlichen Mütze, und die beiden Wettenden verließen wohlgemut, vom Göttertrank spritzig angehaucht, die gastliche Kneipe. Zurück blieben zwei leere Sektflaschen und ein geprellter Wirt.
Die Rechnung aber steht heute noch offen, weil der Turm immer noch fest steht! Fest steht auch die Tatsache, daß, wenn zwei sich streiten, der dritte dann immer den Nachteil hat, wenn er über seiner Profitgier den Sinn einer Sache nicht recht und richtig auszulegen vermag, weil die Gier, diese nimmersatte, ihm Herz, Hirn und Verstand umnebeln und verdüstern.


Aus: Heimatbuch 1962 des Kreises Kempen-Krefeld, Kempen 1961, S. 180-182.

Die Veröffentlichung  an dieser Stelle geschieht mit freundlicher Genehmigung des Kreises Viersen vom 16. September 1999
(Aktenzeichen 41/E 1-47 12 43)

Der Artikel wurde in alter Rechtschreibung belassen


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