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Zehntes Kapitel.

Der Obergerichtshof "Geer" zu Hinsbeck.

Bekanntlich fand in altgermanischer Zeit die Abhaltung des Gerichtes und der drei allgemeinen "placita" unter freiem Himmel statt, an Orten, wo das Volk seinen religiösen Kultus übte, in Wäldern, unter Bäumen, auf Wiesen, in der Nähe eines Wassers, in Tiefen und Gruben, auf Bergen und Hügeln. Dieser Gebrauch hat sich auch in unserer Gegend mehrfach bis in die letzten Jahrhunderte hinein erhalten. Eine der berühmtesten solcher alten Gerichtsstätten im Herzogtum Geldern war die "Klaarbank" zu Englanderhof beim Dorfe Bankbergeb im Quartier Arnheim, die als Oberhof für die Gebiete Veluwe und Veluwenzoom, in deren Mitte sie lag, bekannt ist und eine große Uebereinstimmung mit der Gerichtsstätte des Amtes Krickenbeck zeigt. Die "Klaarbank" zu Engladerhof lag auf einer mit schöner Aussicht auf den Isselstrom verbundenen, jedoch sehr unfruchtbaren und einsamen Hochebene, die ringsherum mit Bäumen bepflanzt war. Nach einer noch vorhandenen Zeichnung aus dem Jahre 1563 bildete dieselbe ein aus vier hölzernen Bänken bestehendes längliches Viereck, mit besonderen erhöhten Sitzen für den Landesherrlichen Statthalter und den Drosten der Veluwe. Die Bänke dienten teils für Kanzler und Räte, teils für die Mitglieder der Ritterschaft und der Städte des Gebietes. Vor diesen Bänken waren die Plätze für den Greffier und den Landschreiber angebracht. Das Ganze war mit einer Decke versehen und nach allen Seiten hin mit Brettern verschlossen. In der Nähe dieser Gerichtsstätte standen nicht nur mehrere Häuser und Zelte, sondern es fand bei derselben sogar ein "freier Markt" statt. Es ist bekannt, dass die Herzöge hier mehrmals z.B. in den Jahren 1419 und 1437, persönlich zu Gerichte saßen und zuweilen auch (1424) die Huldigung der Ritterschaft der Veluwe entgegennahmen. Im Jahre 1575 wurde jedoch das Gericht nach Arnheim verlegt.

Eine solche "Klaarbank" oder einen Oberhof besaß das Amt Krickenbeck an einer ebenfalls im Freien, im Kirchspiel Hinsbeck gelegenen Gerichtsstätte, die den Namen "de Geer" trug. Schon während der Jahre 1461 bis 1488 sehen wir, wie die Schöffenstühle von Grefrath, Hinsbeck und Lobberich öfters Rechtsbelehrungen auf der Geer holen, und, im Falle auch diese ein Urteil nicht finden konnte, die Entscheidung des Schöffenstuhles in Roermond einholen. Im Jahre 1485 versammelten sich die Landschaften auf der Geer, um die von der Ritterschaft den Hofesleuten und anderen Vornehmen des Amtes zu Hinsbeck neuerdings zusammengestellten alten Rechte, Gewohnheiten und Herkommen des Gebietes einer näheren Durchsicht und Prüfung zu unterwerfen. Zufolge des Viersener Landrechtes musste jeder neuangestellt Drost oder Amtmann auf der Geer in Gegenwart der Ritterschaft, der Landschöffen und Geschworenen des Amtes Krickenbeck den feierlichen Eid leisten, wobei die Schöffen und Geschworenen von Viersen die Eidesformel vorsagen und im Namen der Uebrigen das Wort führen mussten. Auch erwähnt das i. J. 1620 verkündigte geldernsche Landrecht (5, Teil, 16. Titel, 3, § 2) ausdrücklich den alten Rechtszug der Schöffenstühle des Landes Krickenbeck "op den Geer" und bestimmt, dass derselbe nach alter Gewohnheit fortbestehen solle.

Nähere Auskunft über die "Hoffbank" Geer erhalten wir bei Gelegenheit des Verkaufes der hohen, mittleren und niederen Gerichtsbarkeit der einzelnen Gemeindes des Amtes. Die Schöffen desselben sprachen nämlich in einer Eingabe an die Regierung die Befürchtung aus, daß diese Veräußerung die Auflösung des bisherigen Amtsverbandes, den Untergang des gemeinsamen Oberhofes und den Ruin des Dorfes Hinsbeck zur Folge haben würde. Sie erklärten, daß zu Hinsbeck die älteste Schöffenbank des Amtes sei, die Gerichtssitzungen über Amtsangelegenheiten auf dem "Stadthause" daselbst stattzufinden pflegen und hier außerdem für die übrigen Gerichte des Amtes ein Oberhof bestehe, der alle 14 Tage unter dem Vorsitze des Landschultheißen zusammentrete, um Rechtsbelehrungen zu erteilen.

Auch bestehe nur allein zu Hinsbeck "Galge und Rad" für das ganze Amt, mit Ausnahme von Viersen. Die wahrscheinlich von dem Ankäufer der "Herrlichkeiten", dem Freiherrn von Schaesberg, ausgegangene Widerlegungsschrift ergänzt diese Angabe, indem sie besagt, daß die Sitzungen des Oberhofes Geer in "een rauwe Cuyl, gegraven int midde van een woeste heyde" alle 14 Tage stattfinden und jedes einzelne Gericht des Amtes 2 "Landschöffen" 1) dorthin zu entsenden pflege; die beiden Schöffen desjenigen Gerichtes, welches die

1) Die zur Teilnahme an den Sitzungen des Oberhofes bestimmten Schöffen trugen stets die Bezeichnung "Landschöffen", im Gegensatz zu denjenigen Schöffen, welche in den gewöhnlichen örtlichen Gerichten als Urteilfäller auftraten.

"beleeringe ende claeringe" verlange, hätten den übrigen die Rechtssache vorzutragen, wonach der Ausspruch erfolge. Bei ungünstiger Witterung seien jedoch die Gerichtspersonen genötigt den Ort zu verlassen und sich auf das "Schöffenhaus" zu Hinsbeck zu begeben, wo alsdann entweder der Rechtsspruch, oder die Verweisung der Sache zur "naerdere beleeringe om decisie" an das höhere Obergericht der Hauptstadt Roermond, oder an den Hof von Geldernland stattzufinden pflege.

Diese Angaben finden ihre Bestätigung in vielen Nachrichten, welche uns über das in Rede stehende Obergericht zur Verfügung stehen. So erklärte das Gericht zu Lobberich am 11. November 1607, in einem Rechtsstreite, "der Sache nicht weise zu sein", und verwies dieselbe an die Landschöffen "aen de Geer." Ebenso bezeigt das Protokollbuch des genannten Gerichtes, daß ein "op de Geer" gefälltes Urteil am 27. Januar 1609 "deur monde der schepenen" von Lobberich im dortigen Gericht verkündigt sei. In einem Protokollbuche Leuth's heißt es: "De Schepenen erkennen in Recht, in der wylen sy met partidich syn, on dat dese Saeke mear de Geer, Anno 1643. - Beide Partien halden aen, dat die Saeke moege gegeert werden. Anno 1644. - Den 4. Dezember 1656 Geerdaph gehalden, ende syn op den Geer gewest van Grefrath Jakob Schrörs ende Jan Ramkens, van Lobberich Theisken op den Sten ende Heinken Schusters, van Hinsbeck Rut Susen ende Dell Hendrik, van Wankum Lambert an gen Anstot ende Gerhard Hunnekens, van Leuth Berten Hendrik ende Jakob to Bosch.

Durch den Verkauf der Herrlichkeiten seitens der Regierung ging die Ausübung der Rechtspflege in den einzelnen Schöffenstühlen an verschiedene Personen über, und so kam es, daß die vorhin ausgesprochenen Befürchtungen der Amtsschöffen über den Untergang der "Geer", in Erfüllung gingen. Unser Oberhof kam schon bald nachher außer Gebrauch und fiel gänzlich der Vergessenheit anheim. Am 20. November 1674 waren die Schöffen von Grefrath, Wankum, Hinsbeck, Lobberich und Leuth in Grefrath versammelt und sprachen in protokollarischer Form ernstliche Bedenken gegen die Rechtsgültigkeit ihrer Versammlung aus; erst nachdem die beiden neuen Gerichtsherren erklärt hatten, daß seit dem Verkauf der Herrlichkeiten die Geer in Wegfall gekommen sei, gingen sie zur Behandlung der Rechtssache. Eine weitere Folge jener Veräußerung war, daß die neuen Gerichtsherrn auch zu Grefrath "Galgen und Rad" errichteten.

Unsere Gerichtsstätte lag auf dem äußersten Plateau der Landhöhe, welche sich von Gladbach aus über den Löhberg, Hochbusch, Süchteln, (Heiligenberg) zwischen Lobberich und Grefrath hindurchzieht und am Hombergerberge, in der Nähe des Schlosses Krickenbeck, endigt, wo sie durch die Nette von dem in der Gemeinde Herongen gelegenen Buschberg in ziemlich jähem Abfall getrennt wird. Der Hombergerberg, dessen Plateau etwa 150 Fuß über der Thalsohle der Nette liegt, läuft in 3 Spitzen aus, welche Hogenberg, Wartberg und Galgenberg heißen. Sämtliche drei Berge gewähren eine herrliche Aussicht auf die Niederung und schwerlich konnte in dieser Gegend zur Abhaltung großer Volksversammlungen, behufs religiöser und politischer Zwecke, ein geeigneterer Platz, als dieses Plateau, gefunden werden. Der Galgenberg hat, wie schon der Name selbst angiebt, seine Benamung von dem Galgen, welcher ehedem darauf gestanden hat. Auf mehreren alten Karten finden wir Galgen und Rad auf jenem Berge verzeichnet und auch beim Volke ist noch jetzt die Stätte bekannt, wo die Hinrichtungen stattzufinden pflegten. Der Tradition zufolge sollen daselbst zuletzt 7 des Diebstahls überführte Juden gehängt worden sein, nachdem sie eine Zeit lang auf Schloß Krickenbeck im nach ihnen noch jetzt so genannten "Judenkeller" (dem Amtsgefängnisse des Drosten), worin noch jetzt 3 Gefängniszellen zu sehen sind, gefangen gesessen. (Bis vor wenigen Jahren waren auch die eingemauerten Ketten in denselben noch vorhanden.) Wegen seiner Stellung auf hohem Berge konnte der Galgen zu Leuth, Hinsbeck und teilweise Lobberich gesehen werden und musste deshalb hier eine beständige Warnung vor Verbrechen sein. Nahe der Galgenstätte liegt eine Schlucht, nach einigen "Geselkuhl" (Geißelplatz), nach anderen "Geistekuhl" genannt, wo vielleicht die Hingerichteten begraben wurden. Etwa 60 Ruten vom Galgenplatze entfernt, in der Richtung zum Dorfe Hinsbeck, erblickt man mitten in einer wüsten Heide, der sogenanntem Legheide, noch gegenwärtig eine ovale Grube von 16 Ruten Länge und 3 1/4 Ruten oberer Breite, welche man als die Stätte unseres Gerichtshofes "Geer" anzusehen hat. Am unteren Teile, etwa 1 ½ Fuß vom Boden entfernt, sind die Seitenabhänge, ungefähr 2 Fuß breit, hie und da ausgegraben und an diesen Stellen offenbar die Sitze für die Schöffen gewesen. Für eine einfache Sandgrube darf dieser Platz schon deshalb nicht gehalten werden, weil Sand anderwärts weit bequemer in Fülle gewonnen werden konnte. Der Name "Geer", den unser Oberhof trug, rührt nicht von der Grube, worin die Sitzungen gehalten wurden, sondern von der Form des Galgenberges her. Bekanntlich versteht man unter einer Geer eine in ein Dreieck auslaufende Bodenfläche, welche Eigentümlichkeit auch beim Galgenberg vorhanden ist.

Wir glauben nicht zu irren, wenn unsere "Geer", eine sehr alte, historisch merkwürdige Kulturstätte der Gegend, als die Malstätte für einen bestimmten Bezirk des Mühlgaues angesehen, welche auf das Entstehen des nur wenige Minuten entfernt liegenden Dorfes Hinsbeck von bestimmenden Einfluß gewesen ist. Gewiß wird der hl. Amandus auf der Stätte das Evangelium verkündet haben, welche der Sammelplatz für die Eingesessenen der Gegend zur Ausübung des heidnischen Kultes war. Vermutlich steht mit der Erteilung der christlichen Taufe hierselbst die unter dem Namen "Heiligenpüttje" bekannte und in der Nähe unserer Gerichtsstätte gelegene Quelle in Verbindung, welche als ein geheiligter Ort noch in der Gegenwart vielfach besucht wird, besonders von Pilgern aus dem Jülicherlande, die auf ihrer Wallfahrt nach Kevelaer vom Dorfe Hinsbeck aus die Höhe ersteigen und das Wasser dieser Quelle zur Heilung von Augenkrankheiten und Kopfausschlag benutzen.


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